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Sinn: Warum wir schreiben

“Die Leute fragen mich, warum ich schreibe. Ich schreibe, um herauszufinden, was ich weiß.”

Virginia Woolf

Virginia Woolfs Zitat ist beim Schreiben einer meiner Leitsterne. Ich bin begeistert von der Erlaubnis, die sie mir und allen Schreibenden mit ihren Worten gibt.

Zu schreiben, um herauszufinden was ich weiß, bedeutet für mich auch zu schreiben, ohne vorher genau wissen, was dabei rauskommen wird.

Schreiben, nicht als Mittel zum Zweck.

Nicht, um etwas zu leisten, etwas unter Beweis zu stellen.

Ich schreibe, weil ich neugierig bin.

Ich schreibe, um mir selbst – meiner Essenz, meiner Weisheit, meiner Menschlichkeit – näherzukommen.

Ich schreibe, weil meine Worte eine Verbindung in die Welt sind. 

Wenn wir Schreiben als Lebenshaltung betrachten, hat das eine ganz wichtige Konsequenz:

Wir schreiben, weil wir gar nicht anders können.

Lebenshaltung Schreiben

Vor einigen Monaten habe ich (am Meer sitzend, einen warmen Pfefferminztee in der Hand, den weiten Himmel über mir und die sanft ans Ufer schwappenden Wellen in meinen Ohren) folgende Zeilen gelesen, die Rainer Maria Rilke im Jahr 1903 geschrieben hat:

Fragen Sie sich in der stillsten Stunde ihrer Nacht: muss ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen “ich muss” dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muss ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange.

Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, Anaconda 2023, S.7

Rilkes Worte fordern dazu auf, das Schreiben als Lebenshaltung zu betrachten. 

Im Englischen gibt es dafür einen schönen Ausdruck “The Writing Life”.

Leben und Schreiben sind untrennbar miteinander verwoben: Das Leben schenkt uns die Erlebnisse, Herausforderungen und Geschichten, die wir für unser Schreiben brauchen.

Wenn wir das, was wir leben, denken und fühlen in Worte fassen, fließt die Erfahrung erneut durch uns hindurch – und verändert damit unsere Wahrnehmung. 

Die Art und Weise, wie wir als Schreibende durch unser Leben gehen – aufmerksam, offen, neugierig, so als würden wir am Ufer unserer Existenz nach kostbarem Schwemmgut suchen – beeinflusst nicht nur die Geschichten unserer Vergangenheit, sondern auch unser Erleben der Gegenwart. 

Wenn ich sage: “Ich schreibe”, sage ich also auch: “Ich erlaube es dem Schreiben, mein Leben zu verändern.”

Schreiben ist nicht nur eine Tätigkeit ist, nicht nur Mittel zum Zweck (für die Sichtbarkeit, für den Bestseller, für das Ego). Wenn wir das anerkennen, wird das Schreiben zu einem Bedürfnis, dem wir uns nicht mehr entziehen können. 

Es zu erfüllen bedeutet, unserem Innersten Ausdruck zu geben, unsere Stimme zu finden und unsere Geschichte zu erzählen. 

Das ist kreative Erfüllung, die es uns erlaubt, zur Gestalterin unseres Lebens zu werden, unsere kostbaren Erlebnisse festzuhalten und schmerzhafte Erfahrungen zu integrieren und mit unseren Worten zu heilen.

Heilsames Schreiben

Schreiben bedeutet auch, das auszudrücken, was uns bedrückt. 

Wir erfahren dabei Erleichterung: Sobald eine Sache ihren Ausdruck gefunden hat, verliert sie einen großen Teil ihrer Macht über uns.

Wir kreieren durch das Schreiben Raum zwischen uns und dem, was uns auf der Seele lastet – und kommen uns selbst auf wundersame Weise dabei näher. 

Louise DeSalvos schreibt dazu in ihrem wunderbaren Buch Writing as a Way of Healing:

Der Schreibprozess – egal, wieviel Zeit wir ihm widmen – birgt ein enormes Potential für unsere Heilung. Ein Grund dafür ist, dass das Schreiben uns aus unseren Problemen herausholt. Durch das Schreiben kultivieren wir die Fähigkeit, uns zu vertiefen, indem wir tief in unser Schaffen hineinsinken. Paradoxerweise wirkt das beruhigend, obwohl wir uns aktiv darauf einlassen, egal ob wir über freudige Momente schreiben oder über schmerzhafte. 

Regelmäßiges Schreiben fördert unsere Resilienz, eine Fähigkeit, die es Menschen, die Schwierigkeiten ausgesetzt sind ermöglicht, dennoch aufzublühen. (…)

Das ist so, weil wir beim Schreiben zu Beobachtern werden, ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung von Resilienz. So gelingt es uns, unser Leben mit etwas Abstand zu betrachten, mit einer Distanz, die entsteht, wenn wir über etwas schreiben und es interpretieren. So können wir die Probleme in unserem Leben als Herausforderungen betrachten, wenn wir uns der Aufgabe stellen, unsere Gedanken so zu artikulieren, dass wir sie verstehen können. 

Es ist nicht wichtig, was wir schreiben oder was wir beim schreiben produzieren. Es ist wichtig, was mit uns passiert, während wir schreiben. Es ist wichtig, zu wem wir werden, wenn wir schreiben. 

Louise DeSalvo, Writing as a Way of Healing, Beacon Press 2000, S. 73-74, eigene Übersetzung

Der Sinn des Schreibens

Oft erzählen mir Menschen, dass sie so gern schreiben würden. Da ist ein Ruf, ein Ziehen, eine Sehnsucht. Als Kind fällt es uns leicht, diesem Schreibdrang unvoreingenommen und ohne Erwartungen zu folgen. Wir schreiben Tagebuch, Gedichte, Briefe. 

Wir schreiben, um zu schreiben – ohne den Sinn des Schreibens zu hinterfragen.

Schreiben ist eine Entscheidung, eine Haltung, ein Lebensstil.

Schreiben ist ein Grundbedürfnis, so nahrhaft und notwendig für unsere Seele wie Essen und Sauerstoff für unseren Körper.

Wenn Schreiben sich gut anfühlt und uns gut tut, warum fällt es dann vielen Menschen so schwer, mit dem Schreiben zu beginnen oder weiterzuschreiben, wenn sie einmal angefangen haben?

Die Frage nach dem Sinn drängt sich aus dem analytisch denkenden Teil unseres Bewusstsein immer wieder nach oben – nicht nur, bevor wir mit dem Schreiben beginnen, sondern auch während des Prozesses. 

Lohnt es sich, zu schreiben?

Lohnt es sich, Zeit und Mühe in meine Kreativität zu investieren?

Was soll aus dem werden, was ich schreibe?

Wohin wird das Schreiben mich führen?

Die Suche nach dem Sinn für unser Schreiben hängen wir gern an ein konkretes Ziel, das wir greifen und artikulieren können – denn so haben wir es gelernt, zwischen “wichtig” (also zielführend) und “unwichtig” (ohne konkretes Ziel) zu unterscheiden.

Unser Gehirn arbeitet dabei nach dem Wenn-Dann-Schema:

Wenn ich den Aufsatz schreibe, bekomme ich eine gute Note.

Wenn ich den Artikel schreibe, werde ich sichtbar.

Wenn ich das Buch schreibe, werde ich Bestseller-Autorin.

Dieses Denken hat zwei gravierende Konsequenzen:

1. Wenn wir uns auf messbare Ziele fokussieren, verschwimmt der eigentliche Wert des Schreibens vor unseren Augen. Denn der Sinn des Schreibens liegt im Schreiben selbst.

2. Der Fokus auf Resultate baut die Erwartung auf, das Ziel zu erreichen – und es ist nur ein kleiner Schritt von der Erwartung zum Entstehen von mentalem Druck, diese zu erfüllen. Das ist der Raum, in dem Schreibblockaden entstehen.

Wo Druck entsteht, nehmen wir Enge wahr – aber den wahren Wert des Schreibens finden wir nur in der Weite, im offenen Horizont unserer kreativen Möglichkeiten. 

Es gibt für uns nur einen Weg in diesen Horizont: Wir finden ihn, indem wir einfach weiterschreiben. 

In diesem Prozess des Wachsens, Öffnens und Erfahrens werden wir zu neuen Fragen eingeladen, die eindimensionale Ziele und Erwartungen ablösen. Sie fordern uns auf, in die Tiefe zu gehen: 

Was, wenn wir schreiben, weil wir gar nicht anders können?

Was, wenn wir schreiben, um unsere Existenz bewusster zu gestalten? 

Was, wenn wir schreiben, um uns zu versöhnen – mit uns selbst, unserer Vergangenheit und der Welt, die uns umgibt?

Die Antwort flimmert sich vor unseren Augen in einen glasklaren Fokus:

Der Sinn des Schreibens liegt im Schreiben selbst.

Alles andere – alle unsere Ziele, Träume, Sehnsüchte und Träume, zu denen uns unser Schreiben führen soll – verwirklichen wir, indem wir einfach weiterschreiben. 

Einladung zum Schreiben

Nimm dir deinen Stift und dein Notizbuch und mache es dir bequem. Du brauchst nur 10 Minuten für diese Übung. 

Schau dich um und suche dir einen Gegenstand, der für dich eine besondere Bedeutung hat. Nimm den Gegenstand in die Hand, fühle ihn und betrachte ihn.

Schreibe dann darüber, wie der Gegenstand zu dir kam und was er dir bedeutet. Lass deine Worte frei und unbewertet fließen. Vielleicht vermischst du Wahrheit und Fiktion, schreibst ein Gedicht oder eine Geschichte. Nutze deinen Gegenstand beim Schreiben als Anker.

Suche dir eine Richtung aus und setze dich in Bewegung.
Der Rest kommt von allein.

Ron Lim

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