“Mama, ich schreibe ein Buch!”
Mein Sohn sitzt konzentriert am Küchentisch. Er hat uns gebeten, ein paar lose Blätter zusammenzutackern und füllt sie mit Buchstaben.
“Wie schreibt man…” hören wir im Minutentakt und buchstabieren geduldig die Wörter für unseren Zweitklässler. Er hat nicht den leisesten Zweifel daran, dass er Bücher schreiben kann (und er erzählt, dass er viele dieser Bücher verkaufen wird).
Mein Herz geht ganz weit auf und ich sehe, wie viel ich von meinem 7-jährigen Sohn über das Schreiben lernen kann.
Frei, wild, unverdorben – ohne Selbstkritik, ohne Hemmungen, ohne Stimmen im Kopf, die behaupten, dass das gar nicht geht und dass es andere ja viel besser können.
Wann ist der Moment, in dem dieses kreative Gleichgewicht ins Kippen gerät, weil uns eingeredet wird, unser Schreiben sei nicht gut genug?
Zu lang.
Zu kurz.
Am Thema vorbei.
Ich hatte Glück, denn meine Aufsätze sind immer gut angekommen.
In meiner Schulzeit habe ich es geliebt, mich in Bücher zu flüchten, lange Briefe und Tagebuch zu schreiben und Gedichte auswendig zu lernen. Meine Aufsätze waren episch und fehlerfrei – ich musste nicht mal Wörter zählen.
Auch wenn ich heute beim Schreiben nicht von Zweifel und Selbstkritik frei bin, kamen meine kreativen Wunden anders zustande.
So bitte nicht!
Als Kind habe ich stark geschielt; ich hatte kein räumliches Seh- und Vorstellungsvermögen (das habe ich bis heute nicht) und konnte nicht gut zeichnen.
Nie werde ich die Kunststunde vergessen, in der wir “Die Pastorin im Garten” zeichnen sollten. Einfach so, aus dem Kopf. Ich habe mich für meine Krakelei geschämt, noch bevor die Lehrerin mein Bild nahm und es für die Klasse hochhielt. “So bitte nicht”, war ihr verbaler Vernichtungsschlag.
Noch heute hallen die Worte in mir nach.
Ich kann mich nicht erinnern, dass sich je jemand bemüht hat, mir das Zeichnen beizubringen – es wurde einfach vorausgesetzt. (Diese Erfahrung habe ich auch in anderen Fächern gemacht. Vorsingen im Musikunterricht ohne jegliche Unterweisung – dass Gesang genau wie Instrumentalspiel mit Technik verbunden ist, habe ich erst als Musikstudentin erfahren. Mein Erleben als Schulkind war sehr binär – Können oder Nicht-Können. Ich konnte Deutsch und Musik – In Kunst und im Sportunterricht war ich eine Versagerin. Meine Mutter habe ich oft von “Talentfächern“ sprechen gehört, die nicht benotet werden sollten. Aber es geht und ging nie um Talent – mehr dazu später.)
Wenn mein Sohn mich heute bittet, etwas für ihn zu zeichnen, wird es eng in meiner Brust. “Ich kann das nicht”, sage ich zu ihm, und er schaut mich mit großen Augen an. “Natürlich kannst du!”, will er mich ermutigen.
Ich erinnere mich noch ein Stück weiter zurück. Beim Aufräumen ist mir vor ein paar Jahren eine mit bunten Bildern vollgestopfte Mappe in die Hände gefallen, die ich im Kinderkreis gemalt hatte. Nicht besonders schön, aber es hat mir offensichtlich Freude bereitet, Tiere, Menschen, Bäume und kleine Geschichten in bunten Farben auf meine eigene Art zu zeichnen.
Verschüttete Kreativität
Wir alle können uns über unsere Kreativität ausdrücken – bis uns jemand das Gegenteil einredet.
“Ich dachte, dass ich gar nicht schreiben kann.”
Wie oft habe ich diesen Satz in meinen Schreibworkshops schon gehört.
Alle Limitierungen zu deinem kreativen Ausdruck wurden dir eingeredet – erst von anderen und dann von dir selbst. Irgendwann gelingt es uns nicht mehr, den Unterschied zu erkennen.
Ist es die Stimme der Kunstlehrerin, die mir noch heute manchmal einflüstert, dass ich nichts kann, nichts zu geben habe und bald entlarvt werde? Oder ist es meine eigene Stimme, die mich im entscheidenden Moment blockiert?
Auch wenn die Botschaften, die mir täglich aus der wachsenden Mindset- und Empowering-Bubble entgegenschwappen, etwas anderes suggerieren, glaube ich, dass das gar nicht entscheidend ist.
Solange wir uns auf die Blockade fokussieren, bleibt unsere Kreativität verschüttet.
Mittlerweile denke ich, dass die Arbeit an der Blockade ein geschickt konstruiertes Ablenkungsmanöver ist. Wir suggerieren uns selbst „Ich bin dran, ich arbeite an einer Lösung“.
Wenn mir heute Frauen mit Schreibblockaden gegenübersitzen, versuche ich nicht, die Blockaden wegzucoachen, den Zweifeln noch mehr Raum zu geben oder mit motivierendem „Empowerment-Talk“ gegen sie ins Feld zu ziehen.
Fakt ist: Das einzige wirksame Mittel gegen Schreibblockaden ist das Schreiben!
Vielleicht magst du dir die Blockade wie einen Damm vorstellen, der deinen kreativen Flow abschneidet. Du kannst versuchen, den Damm mühsam Stein für Stein abzutragen. Dann wird das Gefühl der Anstrengung, vielleicht sogar des Schmerzes dein Schreiben begleiten. Du bist mit deiner Wahrnehmung bei dem, was dich blockiert und spürst den Schmerz deiner kreativen Wunden.
Stattdessen kannst du dich auf die andere Seite des Damms begeben – da, wo deine Worte fließen, findest du Zugang zu deiner verschütteten Kreativität. Alles, was deine Worte hochspülen, stärkt deinen kreativen Fluss, bis er so kraftvoll wird, dass er die Blockade erst überspült und schließlich mitreißt.
Ich verwende so gern die Welle als Bild für das Schreiben, weil Wellen fähig sind, alles wegzuspülen, was sich ihnen in den Weg stellt.
Wenn du das nächste Mal in einer Schreibblockade steckst, versuche, an die Welle zu denken. Egal wie und egal wo – betrachte es deine einzige Aufgabe, Worte fließen zu lassen.
Auch die Frage nach deinem Schreibtalent wird überflüssig, sobald die Worte fließen.
Die Wahrheit ist nämlich: Kreativer Ausdruck ist ein Geburtsrecht und ein essentieller Teil unserer Selbsterfahrung.
Die noch immer weit verbreitete Annahme, dass Kunst vor allem Talent braucht, das nur bestimmten Menschen in die Wiege gelegt wurde, ist schlicht und ergreifend falsch.
Wir sehen das Ausstellungsstück in der Galerie – nicht die tausend verworfenen Skizzen.
Wir lauschen dem Konzert – nicht den endlosen Übungsstunden. (Been there, done that.)
Wir lesen den Bestseller – nicht den Berg der verworfenen Manuskriptseiten. (Und wir sehen nicht den Zweikampf zwischen der Autorin und ihrer inneren Kritikerin, die die Veröffentlichung des Buches um jeden Preis verhindern wollte).
Was wir wirklich brauchen, ist Praxis.
Egal ob Schreiben, bildende Kunst oder Musik – kreativer Ausdruck braucht einen Raum zum kontinuierlichen, wertfreien Üben, um zu wachsen.
Dieser Raum erlaubt es uns auch, unsere Kreativität so fest in unseren Alltag zu integrieren, dass wir sie schon nach wenigen Wochen Praxis nicht mehr missen wollen.
Zurück in den Flow
In der Musik wird tägliches Üben vorausgesetzt. Ich habe – abgesehen von Verletzungen, Krankheit oder ähnlichen Hindernissen – noch nie einen Musiker erlebt, der sich darüber beklagt hat, nicht üben zu können. Beim Schreiben sieht es anders aus – wir denken, dass wir uns einfach hinsetzen und ein Buchkapitel, einen Artikel oder einen fantastischen Newsletter schreiben. Klappt das nicht auf Aufhieb sagen wir, dass wir blockiert sind.
Für Musiker wäre es unvorstellbar, eine Übungsstunde mit der Erwartungshaltung zu beginnen, die schwierigste Stelle perfekt zu spielen. Das Ritual des Aufwärmens, der Tonleitern, Akkorde und Etüden – all das schützt sie nicht nur vor Verletzungen und Überforderung, sondern ist dafür da, sie jeden Tag aufs Neue körperlich erfahren zu lassen, wozu sie fähig sind.
Wenn unsere Bewegungen fließen, hat der Kopf weniger Gelegenheit, einen blockierenden Damm zu konstruieren. Das körperliche Gefühl, im Flow zu sein, lässt uns mit unserer Kreativität auf tieferer Ebene in Verbindung gehen.
Die Bewegung von Worten aus unserem Unterbewusstsein heraus auf das Papier ist ein ureigener Rhythmus, der dich bestärkt und beim Schreiben in einen Flow-Zustand bringt. Deshalb ist es so hilfreich, zumindest zeitweise mit der Hand zu schreiben.
An der Tastatur stocke ich viel öfter. Meine Finger ruhen kurz; ich schaue aus dem Fenster. Ich lasse mich ablenken und mein Wortfluss kommt ins Stocken.
Beim Schreiben müssen wir weitaus weniger „Technik“ lernen als beispielsweise in der Musik. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir uns Rituale schaffen und das Schreiben ganzheitlich erfahren – nicht nur im Kopf, sondern mit unserem Körper und der Kraft aller Fähigkeiten, die in unserem Unterbewusstsein liegen.
Ich erinnere mich daran, in meiner Zeit als Musikerin manchmal ganze Konzertsätze aus reiner Muskelerinnerung gespielt zu haben. Nach tausenden Übungsdurchläufen wussten meine Finger genau, was zu tun ist. Ich hätte keine Chance gehabt, wenn ich in diesem Moment über die schwierige Stelle nachgedacht hätte – stattdessen habe ich mich dem Flow hingegeben und auf das vertraut, was ich meinem Körper antrainiert hatte.
Als Schreibende können wir in einen ähnlichen Flow-Zustand kommen, indem wir ohne (Denk-)Unterbrechung schreiben. Ein Wortstrom, der direkt aus deinem Unterbewusstsein auf das Papier fließt, schenkt dir diese Flow-Erfahrung. Das erklärt auch die Wirksamkeit von Morgenseiten (mehr dazu später) und anderen Schreibpraktiken, die direkt mit dem Unterbewusstsein arbeiten.
(Meine Leseempfehlung dazu: Writing the Natural Way von Gabriele Rico – hier als deutsche Ausgabe – und das weniger bekannte Pain and Possibility – deutscher Titel Von der Seele schreiben. Trotz meiner „Zeichenblockade“ hat das intuitive Skizzieren, so wie Rico es beschreibt, bei mir in einer Schreibcoaching-Session ein absolut verblüffendes Ergebnis hervorgebracht, das ich erst Monate später, als ich das Buch gelesen habe, in seiner Tragweite verstanden habe.)
Den ungestörten Fluss deiner Ausdruckskraft direkt aus deinem Unterbewusstsein zu erleben, ist eine zutiefst heilsame Erfahrung.
Befreites Schreiben
In vielerlei Hinsicht macht es uns das Schreiben leicht.
Der Schreibprozess selbst ist herrlich unkompliziert – jederzeit und (fast) überall erlebbar. Ich bin selten ohne Stift und Notizbuch unterwegs.
Das Schreiben bewusst und regelmäßig als wohltuend zu erfahren, löst Schreibblockaden nicht nur, sondern verhindert, dass sie überhaupt entstehen. Der Schlüssel dafür ist, dass du deine Aufmerksamkeit vom Ergebnis (das oft mit hohen Erwartungen, deinem Ego und allerlei Ängsten und Hemmungen verknüpft ist) wieder auf das Wesentliche lenkst: Das Schreiben selbst.
Die Praxis dieses befreiten Schreibens führt dich zurück zu dir selbst und zu deiner ureigenen Kreativität. Je vertrauter du damit wirst, desto leichter wird es dir fallen, deinem Innersten mit Worten Ausdruck zu verleihen.
Besonders wenn du professionell schreibst, Texte als Marketing für dein Unternehmen nutzt oder einen konkreten Schreibtraum (wie ein Buch) hast, ist eine solche Praxis absolut unverzichtbar. Sie erlaubt es dir, abgeschirmt in einer geschützten Blase etwas Bedeutsames und Bleibendes zu erschaffen und nährt immer wieder deine Kreativität und dein Schreiben.
Diesen für uns regelrecht heiligen Raum zu kreieren und zu verteidigen ist eine unserer wichtigsten Aufgaben als Schreibende.
Das, was du in dieser Zeit zu Papier bringst, wirst du wahrscheinlich nie veröffentlichen. Aber oft zeigen durch die offene, wertfreie Haltung in solchen Schreibstunden Ideen und Fäden, die direkt in deine Schreibprojekte hineinwirken.
Unzensierte Übung führt dich näher zu deiner wahren Stimme, weil du dich beim Schreiben nicht verstellst, wenn du nur für dich selbst schreibst. Der Wunsch zu gefallen und die Angst vor Ablehnung und Kritik treten zurück und lassen deinen kreativen Fluss immer weiter anschwellen – bis der Damm aus Blockaden, Perfektionismus und kritischen Stimmen dein Schreiben nicht mehr aufhalten kann.
Wenn deine Worte wieder ungehemmt fließen, legen sich ihre Wellen wie Balsam auf kreative Wunden aus deiner Vergangenheit und können Heilung bewirken.
Heilsame Schreibpraxis
Eine heilsame Schreibpraxis dient dir und deiner Kreativität. Ihr Ziel ist nicht, Texte in literarischer Qualität hervorzubringen oder andere (und dich selbst) von deinen Schreibfähigkeiten zu überzeugen. Stattdessen schaffst du Raum für ehrlichen und unverstellten Ausdruck.
Wenn du dazu neigst, dein Schreiben als “produktiv” und “nicht-produktiv” zu werten, erinnere ich dich gern noch einmal an den Vergleich mit der Musik. Tonleitern, Fingerübungen und das Wiederholen schwieriger Passagen in unterschiedlichen Tempi ermöglichen virtuose Auftritte. Das Üben in der Musik hinterlässt weniger sichtbare Spuren als das Schreiben. Aber die Wirkung auf unseren Körper, unsere Psyche und unsere geistigen Fähigkeiten sind absolut vergleichbar. Vielleicht kennst du den Ausdruck „den Schreibmuskel trainieren“, der hier ganz gut passt.
So wird jede deiner Schreib-Sessions ganz automatisch auf die Qualität deines Schreibens einzahlen – auch wenn keine der in diesen Sessions geschriebenen Texte jemals veröffentlicht werden. (Ob sie das werden oder nicht, kannst du später entscheiden. Das macht übrigens auch die Frage „Darf ich überhaupt darüber schreiben“ überflüssig. Wenn du darüber geschrieben hast, entscheidest du und du allein, wer deine Worte lesen sollte.)
Ideen für deine Schreibpraxis
Morgenseiten
Gleich nach dem Aufstehen deine Gedanken, Träume, Gefühle inklusive aller Trivialitäten zu Papier bringen: Morgenseiten sind eine Art Detox-Ritual für Schreibende. Du spülst alles, was sich zeigen will, aus deinem Unterbewusstsein direkt auf das Papier – und wirst vielleicht nach ein paar Tagen erstaunt feststellen, dass ganz neue kreative Ideen nach oben blubbern und sich plötzlich mühelos in Worte fassen lassen.
Morgenseiten sind eine wunderbare Möglichkeit, schreibend in deinen Tag zu starten und das Gedankenkarussell in deinem Kopf zu beruhigen. Es ist kathartisch, dir zu erlauben, deine Gedanken völlig ungefiltert zu Papier zu bringen.
Dankbarkeits-Journal
Eine Zeitlang haben mein Mann und ich jeden Abend kurz vor dem Schlafengehen 5 Minuten geschrieben. Wir haben den Tag kurz reflektiert und Momente festgehalten, die uns dankbar gemacht haben. Manchmal habe ich ein paar Sätze formuliert, manchmal auf nur eine schnelle Liste geschrieben. Diese Praxis wirkt in doppelter Hinsicht kraftvoll: Sie richtet unsere Aufmerksamkeit auf positives Erleben und verknüpft das Schreiben mit positiven Empfindungen.
Schreiben als Achtsamkeitspraxis
Geschriebene Bodyscans, Momentaufnahmen deiner unmittelbaren Umgebung, Sinnesempfindungen oder Emotionen – es gibt unzählige Möglichkeiten, Schreiben zu einem regelrecht meditativen Akt zu machen. In die Rolle der wertfreien Beobachterin zu schlüpfen, kreiert beim Schreiben eine winzige Distanz zwischen dir und deinem Erleben – gerade groß genug, dass du dich nicht von Eindrücken oder Gefühlen überwältigen lässt, sondern sie bewusst wahrnehmen kannst. Auch wenn es paradox klingt: Diese Mini-Distanz ermöglicht es, dass du beim Schreiben dir selbst immer näher kommst und dir traust, dich in tiefere Schichten deiner Wahrnehmung hineinzuschreiben.
Inspirations-Glas
Ich nutze sehr gern Gedichte und „Prompts“ (Stichworte oder Fragen, die wie Funken auf mein Schreiben wirken), um schnell in den Flow zu kommen. Vielleicht fallen dir Themen, Sätze, Gedanken oder Fragen ein, über die du gern schreiben möchtest. Du kannst sie einfach auf kleine Zettel schreiben, die Zettel zusammenfalten und in einem Glas an deinem Schreibplatz sammeln. Wenn du schreiben möchtest, nimmst du dir ein Zettelchen aus dem Glas, stellst deinen Timer auf 5 bis 10 Minuten und schreibst frei und unzensiert alles, was sich zeigen möchte.
Ich wünsche dir, dass du deiner Schreibpraxis die Chance gibst, dort für Heilung zu sorgen, wo deine Kreativität Verletzungen erfahren hat, wo du an dir zweifelst oder dich in Selbstbewertungen verstrickst.
Lass deine Worte frei, ungezähmt und kraftvoll fließen!
Wenn du dir dabei Inspiration oder Unterstützung wünschst, schreibe mir gern eine Nachricht.
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